Architekturen // Mehrgenerationenhaus
Wohnen in der Wir-Form
Fotos: Wolfgang Broemser
Wohnprojekt Karolingerstraße, Andernach
Planung: Gesell, Kriesten + Partner (Andernach)
Bauzeit: 2005-2006/2008-2010
Mehrgenerationenhaus
"Unterm Strich zähl ich" - dieses Werbemotto einer Bank gilt auf keinen Fall in einem
Mehrgenerationenhaus! In den 450 Häusern dieser Art, die es derzeit in Deutschland
gibt, leben Jung und Alt unter einem Dach, tauschen ihr Wissen und ihre Erfahrungen
aus. Wie in einer Großfamilie helfen sich die Bewohner, feiern gemeinsam Feste, machen
Ausflüge oder treffen sich zum Stammtisch. Nachbarn achten auf Nachbarn - das er-
laubt es den immer älter werdenden Menschen, möglichst lange im eigenen Zuhause
zu bleiben. Auf die unterschiedlichen Wohnbedürfnisse der Generationen antworten
unterschiedliche Wohnungstypen. Ein bisschen zählt also doch das Ich...
Ein inovatives Genossenschaftsprojekt
Bauherrin des Mehrgenerationenhauses ist eine traditionsreiche Andernacher Genos-
senschaft, die mehr als 750 Wohnungen bewirtschaftet. Mit dem Projekt in der Karo-
lingerstraße betrat die Genossenschaft Neuland. In einem ersten Bauabschnitt entstan-
den 23 Seniorenwohnungen, später folgten zwölf weitere Wohnungen und acht Reihen-
häuser für junge Familien. Die altersgerecht eingerichteten Wohnungen werden vertikal
durch Trep-pen mit Aufzug erschlossen, horizontal durch Laubengänge und außen lie-
gende Haustüren - dadurch sind alle Einheiten barrierefrei zugänglich.
Die Reihenhäuser verfügen über zwei Geschosse, die Mehrparteienhäuser über drei
Geschosse und ein Staffelgeschoss. Privatgärten im Erdgeschoss, verglaste Balkone oder
Wintergärten im Mittelteil und Terrassen für die Dachwohnungen vermitteln zwischen
Innen und Außen. In einem eigenen Baukörper sind ein Café und zwei Gästewohnungen
untergebracht. Der grüne Innenhof des Quartiers dient als gemeinsamer Rückzugsort.
Zwei Blockheizwerke versorgen die Wohnanlage mit Wärme und Strom.
Foto: Gemeinnütziger Bauverein eG
Günstige Miete & lebenslanges Wohnrecht
Trotz der gehobenen Ausstattung bietet das Mehrgenerationenhaus bezahlbare Mieten.
Wer einziehen möchte, muss Mitglied des Bauvereins werden und Anteile von 540 Euro
pro Quadratmeter für eine Wohnung und 340 Euro pro Quadratmeter für ein Reihen-
haus zeichnen. Die Wohneinheiten sind zwischen 46 und 91 Quadratmeter groß;
Standard ist eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit Küche und Bad (60,5 Quadratmeter).
Die Kaltmiete liegt mit 5,40 Euro pro Quadratmeter etwa drei Euro unter dem lokalen
Durchschnitt und verringert sich bei Zuteilung einer Dividende noch weiter. In den
ersten fünfzehn Jahren bleibt sie unverändert; außerdem besteht ein lebenslanges
Wohnrecht. Man wohnt zur Miete wie im Eigentum.
Zusammen wohnen, zusammen kochen
Der nahe der Innenstadt gelegene Komplex ist voll vermietet, die Liste der Wartenden
lang. 67 Bewohner aus vier Generationen - das Durchschnittsalter liegt bei 56 Jahren -
erfüllen derzeit die Theorie des gemeinschaftlichen Wohnens mit Leben. Und das treibt
schöne Blüten: Bewohner verfassten beispielsweise ein Kochbuch mit Rezepten, welche
die unterschiedliche Herkunft der Kochgenossen widerspiegeln. 2012 wurde das Haus
Preisträger beim Wettbewerb "Lebendige Nachbarschaft in Rheinland-Pfalz". Die Lan-
desregierung unterstützte die Planung der Wohnanlage mit 12.000 Euro, um deren
Modellcharakter zu würdigen.
"Widerliche Rezepte - Menschen wissen nicht, was schmeckt."
"Aber Servietten und Zahnstocher find' ich cool - Menschen sind
hygienischer als ich dachte, trotz der großen, fetten Leiber."
»Mehrgenerationenhäuser sind
wie soziale Bienenstöcke in
unserer Gesellschaft.«
Arbeitsministerin Ursula von der
Leyen
»Wir haben uns bewusst für eine
hochwertige Ausstattung ent-
schieden und kreativen Ideen
den Vorrang gegeben.«
. Der Architekt Klaus Gesell
Architekten als
Schamanen
Die japanische Architektin Kazujo
Sejima, Trägerin des Pritzker-
Preises
"People meet in architecture."
Das Reißbrett - ein Riesenbrett: Architekten müssen heute Tausendsassas sein, Techniker, Künstler, Unter-
nehmer und Sozialtherapeuten in einem. Sie sollen auch "heilen", gesellschaftliche Fehlentwicklungen korri-
gieren, buchstäblich den Grundstein für ein besseres Leben legen. Sie sollen nicht nur Stadtbilder reparieren
und Bestandsbauten revitalisieren, sie sollen auch Menschen in Wohnprojekten und kommunikationsfördernden
Grünzonen zusammenführen. Einem Berufsstand, der oft als abgehoben und selbstverliebt gilt, wächst damit
eine erhebliche Verantwortung zu. Seine Vertreter müssen sich erden, auch mit den Nutzern reden statt nur mit
Bauherren und Verwaltungen. Im Andernacher Beispiel ist das der Fall: Der Architekt ist Mitglied der Genossen-
schaft, sein Büro liegt in derselben Straße wie das Mehrgenerationenhaus - so kann der Planer ständig über-
prüfen, ob sein Quartier funktioniert, ob seine Baukunst auch soziale Kunst ist.