Neue Synagoge
Architekturen // Synagoge
Ein Gotteshaus aus Buchstaben
Fotos: Manuel Herz, Wolfgang Broemser
Neue Synagoge, Mainz
Architekt: Manuel Herz (Basel/Köln)
Bauzeit: 2008-2010
"Church architecture describes visually the idea of the sacred,
which is a fundamental need of man." Mario Botta, Architekt
Mit dem Neubau der Synagoge hat die Jüdische Gemeinde in Mainz ein neues Zentrum
bekommen. Das Gebäude steht in der Hindenburgstraße* am Platz der alten Haupt-
synagoge, die am 9. November 1938 von den Nazis zerstört wurde. Die Architektur der
Synagoge ist außergewöhnlich und geprägt von religiösen Symbolen. Je nach Blickwinkel
und Lichteinfall ergeben sich neue Perspektiven auf das Gebäude. Keine Wand steht in
einem rechten Winkel zu einer anderen. Auf der Fassade sind tausende blaugrüne
Keramik-Kacheln angebracht, die von schräg angeordneten, unterschiedlich großen
Fenstern durchbrochen werden.
Freie Formensprache à la Libeskind
Der Anblick der Synagoge ist gewöhnungsbedürftig - ein, so der Architekt, gewollter
Effekt: "Sie soll sich dem Betrachter nicht auf den ersten Blick erschließen, das wäre
banal." Und banal dürfe eine Synagoge nicht sein. Der metaphorisch-expressive Bau mit
seiner freien Formensprache erinnert an Daniel Libeskinds Jüdisches Museum in Berlin
- kein Zufall, denn Manuel Herz ist ein Schüler des berühmten New Yorker Architekten
(dessen "sprechende" Architektur im banalitätsverliebten Berlin von heute wohl keine
Chance mehr hätte, zumindest nicht bei Bauprojekten der öffentlichen Hand).
Gebauter Segensspruch
Die Teile des Gebäudes bilden die fünf Buchstaben des hebräischen Wortes "Kedusha"
("Segensspruch") skulptural nach. Durch das Sprechen eines Segensspruches, etwa
beim Verzehr von Brot und Wein, wird ein weltlicher Gegenstand erhöht und geheiligt.
Metaphysische Erhöhung ist nur durch die Gegenwart Gottes möglich. Neben dem
Gebets- und Veranstaltungssaal beherbergt die neue Mainzer Synagoge eine Mikwe,
eine Hebräischschule, eine koschere Küche, einen Sozialdienst und die Verwaltung.

Das Lauschen auf Gott
Das nach Osten, also Jerusalem, gerichtete trichterförmige Dach des Gebetssaales stellt
ein Schofar dar. Das Widderhorn wird zu den wichtigen Ereignissen im jüdischen Jahr,
wie dem Neujahrsfest (s. Bild), geblasen und ruft die Gemeinde zusammen. Es bringt
den Ruf nach Gott, das Lauschen auf Gott und das Empfangen des göttlichen Lichts und
Seiner Weisheit zum Ausdruck. Im Inneren der Mainzer Synagoge dominiert ein strah-
lendes Weiß, nur der Gottesdienstraum glänzt goldfarben. An den Wänden sind zehn-
tausende Schriftzeichen zu sehen, die sich an einigen Stellen zu lesbaren Texten fügen.
Der Versammlungsraum enthält rund 450 Plätze - dringend erforderlich für eine
Gemeinde, die inzwischen mehr als tausend Mitglieder zählt, die meisten davon aus
der ehemaligen Sowjetunion.
"Erdmännchen und Religion? Sorry, wir sind der Erde verbunden,
nicht dem Himmel - sonst hießen wir ja Himmelsmännchen!"
*) Reichspräsident Hindenburg
ernannte 1933 Adolf Hitler zum
Kanzler. Dieser ordnete einige
Jahre später den Holocaust an.
Wieso die Stadt Mainz, die ein
Drittel der Baukosten der neuen
Synagoge übernahm, nicht zu-
gleich die Hindenburgstraße
umbenennen konnte, ist völlig
unverständlich. Keine deutsche
Schule lautet heute noch auf
Hindenburg, also sollten auch
die gleichnamigen Straßen
verschwinden.
Die Leiden der Juden sind
"nicht das Zentralthema dieser
Synagoge. Sie ist mit einem
Kindergarten, Jugendräumen,
Seniorentreffs und einem
wunderschönen Garten dem
(Gemeinde-)Leben gewidmet."
Dieter Bartetzko, Frankfurter
Allgemeine Zeitung
"Bei der Architektur-Biennale in
Venedig rief die Japanerin Kazujo
Sejima jüngst die wichtigste Auf-
gabe von Architektur ins Ge-
dächtnis: 'People meet in archi-
tecture', so ihr Motto. Diese
Botschaft wurde aufgesaugt wie
von einem Schwamm. Menschen
begegnen sich an realen Orten
am liebsten... Öffentliche Häuser,
Straßen und Plätze müssen uns
heraus aus den Kapseln, den
Kokons locken, damit wir Men-
schen unter Menschen anstatt
Fremde unter Fremden bleiben."
Ursula Baus, Frankfurter Rund-
schau


Sakrale Bauwerke haben einen
privilegierten Zugang zur sozia-
len, Gemeinschaft stiftenden und
zur psychologisch-aktivierenden
Kraft der Baukunst, weil sie nicht
trivial sind, sondern Glaubens-
inhalte widerspiegeln. Auch die
Profanarchitektur kann diese
Kraft entfalten, den bloß funktio-
nalen Wert einer Immobilie vom
Glanz ihrer ideellen Werte über-
strahlen lassen. Nur dann gibt
sie ihr Bestes, nur dann kann sie
auch ihre Nutzer dazu bewegen,
ihr Bestes zu geben. Menschen
muss das Gefühl vermittelt wer-
den: Es geht um euch, ihr seid
uns eine besondere architekto-
nische Anstrengung wert. Gute
Gebäude kümmern sich, wie gute
Lehrer, um ihre Schützlinge. Sie
sprechen sie an und bringen sie
zum Sprechen. Sie dienen dem
Menschenlob. Die Kulturhäuser
der DDR erfüllten diese Aufgabe
vorbildlich.* Dagegen scheitern
Schul- und Hochschulgebäude
oft kläglich an ihr, weil die Politik
sich nicht wirklich für die Zukunft
der Menschen interessiert - und
von Architektur keine Ahnung
hat.


"So ist es, Bruder. Gott ist nichts für reife Tiere."
*) Die sog. "dritten" Orte wie die
Deichman Library in Oslo oder das
können als ihre kapitalintensiven
Nachfolger gelten. Auch hier sig-
nalisiert eine außergewöhnliche
Architektur, dass es sich hier nicht
um den Arbeitsplatz oder die ei-
gene Wohnung handelt, sondern
um Inspirationsorte, die das Neue
vermitteln können.